Psychopathia antisemitica

 

Von Reginald Grünenberg

 

Antisemitismus ist keine Meinung und schon gar kein politisches Urteil*. Es ist eine klinische Persönlichkeitsstörung.

 

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 8. April 2012, Seite 9, unter dem Titel „Die Welterklärungsmaschine“

 

Juden sind seltsame Menschen. Dazu muss ich eine kleine Geschichte erzählen. Als ich 1984 für das Politikstudium nach Paris zog, lebte mein Vater dort mit seiner Freundin Raymonde Silberring, einer marokkanischen Jüdin mit israelischem Pass. Sie war vermögend, weil ihr verstorbener Mann, Betreiber eines erfolgreichen Nachtklubs und Cacique von Tel Aviv – ein Persönlichkeit mit genug Charisma und Autorität,  um in der Unterwelt Streitfälle zwischen verfeindeten Gangstern und ganzen Banden zu schlichten –,  ihr ein beträchtliches Erbe hinterlassen hatte. Sie hatte ein Herz aus Gold und bei ihr war immer etwas los; doch wenn sie schlechte Laune hatte, dann riss sie schon mal die Stromkabel aus der Wand. Mein Vater war stolz auf ihre Herkunft, denn sie stammte in direkter Linie von Eleazar Ben Ya’ir ab, dem legendären Anführer des letzten jüdischen Widerstands gegen die römische Invasion. Als die Eroberer 73 n. Chr. die auf einem Tafelberg gelegene Festung Masada stürmten, bewegte Ben Ya‘ir seine tausend Gefolgsleute zum kollektiven Selbstmord. Die Römer waren schockiert und ihre Historiker berichteten mit Ehrfurcht von diesem Ereignis. Seitdem gilt Masada als das stärkste Symbol des jüdischen Freiheitswillens.

Raymonde, die im Club des Milliardaires pokerte oder Baccara spielte, kannte viele wohlhabende Juden und veranstaltete für ihre Freunde regelmäßig prächtige Diners. An der prunkvollen Tafel mit viel Silber, Kristall, Gänseleberpastete (koscher), Beluga-Kaviar (möglicherweise nicht koscher, da der Stör zwar Flossen, jedoch keine Schuppen hat, wobei die Flossen auch eine Art Schuppen sein könnten – darüber wird seit Rabbi Maimonides im 12. Jahrhundert gestritten), Bœuf Stroganoff (gar nicht koscher) und Weinen von Lafite-Rothschild (nicht koscher, aber Baron Edmond de Rothschild hatte immerhin den Weinbau nach Israel gebracht), saßen immer auch zwei Gojim, nämlich mein Vater und ich.

Es war eine surreale und anfangs beängstigende Welt für mich, denn ich kannte Juden bis dahin nur aus Dokumentarfilmen in Schwarz-Weiß, wie sie in der Schule gezeigt wurden. Darin waren sie abgemagerte Elendsfiguren, die auf zerschlissenen Kleidern den Judenstern trugen. Oder Leichen, die nach der Befreiung der Konzentrationslager mit Baggern in Massengräber geschaufelt wurden. Jean-Paul dagegen verkaufte Inseln in der Karibik, Bernard organisierte die Rallye Paris-Dakar und Bernadette besaß mit ihrer hübschen Tochter Féline eine Feinkostkette. Sie waren stets bester Laune, und abgesehen von La bouffe, dem ewigen Thema Nummer eins in Paris, dem Fressen, unterhielten sie sich am liebsten über Immobilien, Schmuck, Autos und andere Leute. Wenn es um historische, politische oder literarische Fragen ging, wandten sie sich gerne an meinen Vater oder mich, denn diese Kinder Abrahams hatten es nicht so sehr mit der Bildung, wie man sich das landläufig bei Juden vorstellt.

 

 

Was mich damals überraschte, das war, wie sie so unbeschwert mit uns beiden Deutschen am Tisch sitzen konnten. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, als Jude geboren zu sein. Genau das machte mir Angst. Denn aus mir wäre ein zorniger, ja, rachsüchtiger Jude geworden, sicherlich auch ein glühender Zionist, der Theodor Herzl, dem Autor von Der Judenstaat (1896) und Begründer des Zionismus, einen Hausaltar geweiht hätte. So erwartete ich bei diesen illustren Gesellschaften, die zu später Stunde in freizügige Gelage übergingen, dass irgendwann der zurückgehaltene Hass durchbricht. Doch nichts passierte. Im Gegenteil, es waren mitunter die schönsten und aufregendsten Abende meines Pariser Studentenlebens. Diese und spätere Begegnungen haben immer wieder bestätigt, dass Juden seltsame Menschen sind, denn sie haben uns Deutschen eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte bereits verziehen. Dadurch hat ausgerechnet das Vorbild der Juden mir die schwierigste Lehre des christlichen Glaubens zugänglich gemacht, nämlich die Vergebung von Schuld.

 

Wenn aber schon Juden seltsame Menschen sind, wie viel seltsamer sind dann Antisemiten, zumal deutsche Antisemiten? Angesichts der Tatsache des Holocausts und der ausgebliebenen Vergeltungsmaßnahmen der Juden konnte ich mir schlicht nicht mehr vorstellen, wie jemand seinen Judenhass noch begründen könnte. Alle Schleier antisemitischer Mythen schienen längst gelüftet. Doch der Schein trügt. Eine Expertenkommission des Bundestages hat kürzlich die Studien der letzten Jahrzehnte bestätigt, indem sie feststellte, dass auch heute noch 20 Prozent der Deutschen latent antisemitisch sind. Damit ist der Antisemitismus nicht weniger als eine Volkskrankheit, viel weiter verbreitet ist als Depression (5%), Asthma (7%) oder Diabetes (8%).

 

Es gibt zwei Themen, mit denen der Antisemit sein Anliegen bis hinauf in die besten Kreisen als gerechte Empörung unwidersprochen vortragen kann, nämlich die Entschädigungszahlungen und die Existenz des Staates Israel. Dabei ist die Wiedergutmachungsfrage erledigt. Der rein materielle Schaden der Juden aus der deutschen Verfolgung und dem Holocaust wird auf 230 bis 380 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Summe der Entschädigungen, die Deutschland bis heute gezahlt hat und weiterhin zahlen wird, liegt zwar nur bei 100 Milliarden US-Dollar, die Hälfte davon in Form bescheidener Renten an in Israel lebende Opfer des Nationalsozialismus. Doch der Gründer des Jüdischen Weltkongresses Nahum Goldmann, der 1952 den Israelvertrag mit Konrad Adenauer ausgehandelt hatte, in dem es lediglich um 3,5 Milliarden DM ging, war von der Ausweitung der Entschädigungsleistungen in den Folgejahren so überrascht, dass er bereits 1978 rückblickend schrieb: „Man kann also den Deutschen nicht vorwerfen, kleinlich gewesen zu sein und ihre Versprechen nicht gehalten zu haben.“

 

Was die Gründung und Existenz des Staates Israel seit 1948 angeht, so nimmt der Antisemit für sich in Anspruch, dass beides unter Juden selbst umstritten sei. Stellvertretend für die Partei der jüdischen Israelfeinde kämpft Norman Finkelstein, politikfremder Rechtsfundamentalist und Hisbollah-Verehrer, mit Büchern wie Die Holocaustindustrie (2001) und Antisemitismus als politische Waffe (2005) gegen Alan Dershowitz, den konservativen hard boiled-Staranwalt aus New York, der das Land mit seinem  fulminanten Plädoyer für Israel (2005) verteidigt. Der deutsche Antisemit jubelt Finkelstein zu, erlebt sein Coming-out als Antizionist und engagiert sich für die Befreiung Palästinas. Der Antizionismus beruht allerdings bei Juden wie bei Nichtjuden auf einer dramatischen Verklärung der sechs Kriege und zwei Intifaden, mit denen die arabischen Nachbarstaaten Israel seit 1948 nicht nur besiegen, sondern vernichten wollten. Denn so anmaßend und prekär die jüdische Staatsgründung in Palästina war – wegen der Flucht und Vertreibung von 700.000 Arabern und trotz der legalen jüdischen Besiedlung seit 1880 –, so sehr wurde sie durch die wiederholten Siege Israels über die arabischen Streitmächte und ihre ethnischen Säuberungspläne ins Recht gesetzt. Dass Israel mit jedem weiteren Angriff ohne Kriegserklärung, mit jedem Gewalt- und Terrorakt stärker und größer wurde, diese Dialektik haben die Aggressoren bis heute nicht begriffen. Der Staat Israel ist in seiner heutigen Form das Werk seiner arabischen Feinde. Das von den Arabern erfundene Volk der Palästinenser – bis 1967 gab es auf arabischer Seite keine Pläne für ein unabhängiges Palästina – kann man in diesem Kontext nur dafür bedauern, dass es jahrzehntelang von den notorischen Kriegstreibern und -verlierern instrumentalisiert wurde und dass  seine korrupte Führung 2000 in Camp David die Zwei-Staaten-Lösung boykottierte, als sie tatsächlich zum Greifen nahe war.

 

 

Wenn diese Begründungen des Judenhasses unhaltbar geworden sind, woher kommt er dann? Und warum gerade die Juden? Im Laufe der Jahre und vieler Begegnungen mit Antisemiten verdichteten sich die Hinweise, dass es sich um eine Art Geisteskrankheit handelt, die wahrscheinlich unheilbar ist. Antisemitismus ist ein One-Way-Ticket. Das stärkste Indiz dafür ist die Tatsache, dass es keine Zeugnisse von ehemaligen Antisemiten gibt. Die Vermutung, dass der Antisemitismus und seine Nachgeburt, der Antizionismus, tatsächlich Formen einer klinischen Persönlichkeitsstörung sind, wurde auch schon mehrfach geäußert. Der rumänische Arzt und Zionist Karpel Lippe schrieb bereits 1887 über Symptome der antisemitischen Geisteskrankheit s und der Philosoph Constantin Brunner veröffentlichte 191 9 seine Schrift Der Judenhass und die Juden. Darin stellte er fest: „Die Psychopathia antisemitica gehört hinein in die allgemeine Psychologie, in die psychologische Anthropologie.“  Brunner, selbst Jude, zeigte echtes Mitgefühl mit den Erkrankten: „Wie und wie weit lässt sich den bejammernswerten Leuten helfen, die an den Juden verrückt geworden sind, und auf welche Art können in Zukunft andre vor dem gleichen Unglückslose bewahrt werden?“ Weitere Impulse gingen vom Psychiatrischen Symposium zum Antisemitismus 1944 in San Francisco aus. Die dort vorgestellten Ansätze wurden von einzelnen Psychoanalytikern wie Bela Grunenberg weiterentwickelt. 

 

Doch heute spielt der psychopathologische Aspekt in der Antisemitismusforschung keine Rolle mehr. Die Verschiebung in den Grundlagen der Sozial- und Geisteswissenschaften von handelnden, menschlichen Subjekten zu „Systemen“, „Strukturen“, „Diskursen“ und „Kontexten“ hat dazu geführt, dass wir heute weniger über dieses Subjekt wissen als je zuvor, den Antisemiten eingeschlossen. Das Resultat dieses metatheoretischen Subjektverbots** ist, dass der Antisemit inzwischen als das natürliche Produkt einer kranken, kapitalistisch entfremdeten Gesellschaft gesehen wird. Das schrieb schon Jean-Paul Sartre 1944 in seinen berühmten Überlegungen zum Antisemitismus: „Wir stimmen mit dem Antisemiten in einem Punkt überein: Wir glauben nicht an die menschliche ‚Natur‘, wir lehnen es ab, die Gesellschaft als eine Summe isolierter oder isolierbarer Moleküle zu betrachten.“

Der häufiger zitierte Satz von Sartre, der Antisemitismus sei die Furcht vor dem Menschsein, war nur eine laienpsychologische Fremdzuschreibung.

 

Um an die Wurzel des Antisemitismus zu gelangen, müssen wir die Gedanken des Antisemiten erforschen und so wiedergeben, dass er sich verstanden fühlen könnte. Was ich damit meine? Hier ein Versuch. Der Antisemitismus ist bekanntlich eine Leidenschaft, die den Antisemiten auf intime Weise mit dem Dasein des Juden verbindet. Er spürt Lust gepaart mit Verachtung und tiefster Geborgenheit bei dem Gedanken: Der Jude erklärt mir die Welt, den Kapitalismus oder den Kommunismus, den Unterschied von Arm und Reich oder wenigstens den Nahost-Konflikt. Das ist eine wichtige Leistung, durch die der Antisemit sich beim Juden verschuldet.  Wenn man diese Aussage umkehrt, erkennt man auch die Angst, die damit verbunden ist: Ohne den Juden verstehe ich die Welt nicht mehr! Denn der Jude ist Teil des kognitiven Apparats des Antisemiten geworden, eine mächtige, beruhigende Welterklärungsmaschine, auf die er nicht mehr verzichten kann. Deshalb der Jude, denn er ist in dieser Funktion nicht ersetzbar. Im Endstadium dieser Krankheit beginnt der Antisemit ernsthaft an ihr zu leiden und versucht sich selbst zu heilen, wobei er zunehmend die Bereitschaft entwickelt, von den Worten zu Taten zu schreiten: Die Welt, die der Jude mir erklärt, hat er auch erschaffen. Ich will eine neue Welt – eine ohne Juden.

 

Nach dem Scheitern aller anderen Ansätze ist es an der Zeit, sich mit dem Antisemiten ganz im Sinne des Philosophen Brunners wieder als Subjekt zu beschäftigen, und zwar als Patienten.

 

  

*Was alles erforderlich ist, damit ein Urteil als 'politisch' qualifiziert werden kann, das habe ich 2006 in meinem Buch Politische Subjektivität. Der lange Weg vom Untertan zum Bürger ausgearbeitet.  

 

**Dieses Thema habe ich in meinem Essay Was ist ein Demokrat? Versuch einer Definition der demokratischen Persönlichkeit von 2012 genauer ausgeführt.