von Reginald Grünenberg
Erschienen in der internationalen Zeitschrift Fikrun Wa Fann des Goethe-Instituts, Juni-Ausgabe 2012 (Arabisch, Englisch, Deutsch, Farsi und Französisch), hier zum freien PDF-Download auf Academia.edu.
Es ist eigentlich eine ganz einfache Frage, auf die man eine kurze und bündige Antwort erwarten sollte. Doch jeder Anlauf dazu ist ein Fehlstart. Probieren Sie es aus! Erklären Sie in wenigen Sätzen, was ein Demokrat ist. Nicht gültig sind die Antworten „Ein Mensch, der in einer Demokratie lebt“ oder „Die Art von Mensch, aus der Demokratien bestehen“, denn manche Demokratien verkraften eine Menge Nicht-Demokraten und es gibt Demokraten in Ländern, die alles andere als Demokratien sind. Außerdem sind das nur Versuche, etwas Unbekanntes durch etwas Bekanntes zu erklären, nicht das Unbekannte aus sich selbst heraus. Eine richtige Definition müsste auch Kriterien an die Hand geben, mit denen man den Demokraten vom Nicht-Demokraten unterscheiden könnte. Na, ist doch nicht so einfach, was? OK, ziehen Sie den Telefonjoker – eine Hilfestellung in beliebten TV-Quizsendungen – und rufen Sie jemanden an, von dem Sie denken, er oder sie könnte es wissen. Geht auch nicht? Stimmt, der Joker will den Demokraten auch mit der Demokratie erklären, aber das war leider nicht die Frage. Noch ein Versuch: Gehen Sie ins Internet und geben Sie den Suchbegriff „Demokrat“ oder gleich „Was ist ein Demokrat?“ ein. Aha, das sind also Parteimitglieder bestimmter Parteien, die sich „Demokraten“ nennen. Nein, das ist es wohl auch nicht. Gut, jetzt noch eine letzte Chance, denn vielleicht wissen ja nur wir Deutschen nicht, was ein Demokrat ist. Also probieren Sie es auf Englisch, „What is a democrat?“, denn die englischsprachige Welt ist schließlich viel größer und war uns in Sachen Demokratie auch immer schon voraus. Was? Wieder nichts? Erstaunlich, nicht wahr.
Es ist vor allem deshalb so erstaunlich, weil wir als „der Westen“ die Demokratie nicht nur bei uns so hoch schätzen, sondern sie auch noch weltweit exportieren und andere Völker damit beglücken wollen. Es ist zwar logisch nachvollziehbar und entspricht auch der Erfahrung, dass eine Demokratie für ihr Überleben eine gewisse – allerdings völlig unbestimmte – Anzahl an Demokraten braucht, aber wir wissen gar nicht, was das ist, ein Demokrat. Dennoch wollen wir den Irak, Afghanistan und am besten auch gleich China „demokratisieren“, nicht zu vergessen die arabischen Nationen, die sich gerade so spektakulär und unerwartet von ihren Despoten befreit haben. Wir fühlen zwar, wie es ist, ein Demokrat zu sein, und haben eine Ahnung davon, was es bedeutet, aber uns fehlen die Worte dafür. Leider muss ich Ihnen nun mitteilen, dass wir dieses Definitionsproblem hier nicht lösen können, denn seine Ausmaße und Konsequenzen sind viel weitreichender, als diese einfache, kleine Frage es vermuten lässt.
Wenn wir nämlich eine Stufe höher gehen und den allgemeineren Begriff des politischen Subjekts aufsuchen, unter den der Begriff des Demokraten fällt, dann passiert dasselbe noch einmal. „Was ist ein politisches Subjekt?“ können wir dort fragen, doch auch hier wissen wir keine Antwort, und weder der Telefonjoker, noch das Internet können da helfen. Die Verwirrung nimmt nur zu, denn in der marxistischen Theorie ist das politische Subjekt die Arbeiterklasse, ab Lenin dann die kommunistische Partei. Oder bei dem Nazi-Juristen Carl Schmitt der Diktator, der über den Ausnahmezustand verfügt. Hier kommen wir also nicht weiter. Auf der nächsthöheren Abstraktionsstufe finden wir dann das Individuum. Wir folgen nämlich der Intuition, dass Menschen doch Individuen sind, und als solche können sie zumindest auch politische Subjekte sein, und als politische Subjekte wiederum können sie auch Demokraten sein. Doch wenn wir schon leicht verzagt die Frage stellen „Was ist ein Individuum?“, dann werden wir überrannt von einer Herde unterschiedlichster philosophischer, soziologischer und psychologischer Antworten, die uns alle nicht weiterhelfen.
Die syllogistische Begriffskette Individuum-Politisches Subjekt-Demokrat werden wir hier also nicht zufriedenstellend mit Definitionen füllen und schließen können, weil wir nur ein Rätsel mit einem anderen erklären würden. Es gibt allerdings ein paar spannende Hinweise, warum diese Begriffe nicht oder nicht mehr thematisiert und definiert wurden. Außerdem habe ich zum mittleren Begriff des politischen Subjekts einen eigenen Ansatz entwickelt, den ich ins Spiel bringen möchte. Vielleicht kommen wir damit am Ende doch wenigstens zu ein paar Konturen des Demokraten.
Der Individualismus ist im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld der bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich entstanden. Das geschah einerseits durch die Taten empörter Bürger, die für mehr Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe an der politischen Macht kämpften, andererseits durch Traktate, in denen die klügsten Köpfe dieser Zeit zu zeigen versuchten, was diese geschichtsmächtige Individualität im Einzelnen bedeutet. So wurden verschiedene Schemata des Individuums entwickelt, allen voran das Individuum als komplexes „Subjekt“ mit erstaunlichen Innenhorizonten in der Philosophie (Descartes, Leibniz, Kant), dann das Individuum als Gegenstand der Erziehung in der Pädagogik (Locke, Rousseau, Pestalozzi), als Akteur auf den Märkten in der Ökonomie (Smith), als rechtsfähige Instanz in den Herrschafts- und Sozialverträgen (Locke, Hume, Rousseau), und schließlich als aus eigenen Überzeugungen heraus kämpfender Soldat im Krieg (Clausewitz). Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung um 1800 mit der kritischen Philosophie von Immanuel Kant, in der die meisten der vorgenannten Ideen zusammengefasst wurden zu einer kompakten Philosophie des bürgerlichen Republikanismus und Individualismus. Das war aber auch schon das Ende des Goldenen Zeitalters des Individuums. Vor allem in Deutschland, das keine eigene bürgerliche Revolution zustande gebracht hatte, kassierte der spekulative Idealismus von Fichte, Schelling und Hegel, der Kant „überbieten“ und „überwinden“ wollte, den konkreten bürgerlichen sowie den philosophischen Individualismus als Fragestellung. Stattdessen wurde im abstrakten „Ich“-Begriff des transzendentalen Subjekts das Fundament für eine Religion und Wissenschaft umfassende Wahrheit gesucht oder gleich der Weltgeist heraufbeschwört, in dem alle Menschen jenseits ihrer störenden Individualität durch dialektische „Aufhebungen“ und in einem alles überwölbendem Staat den Frieden finden sollten. Diese Versuche sind alle fehlgeschlagen, was dazu geführt hat, dass seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Subjektphilosophie und mit ihr das Thema Individualität zunehmend diskreditiert wurde.
Die Spätfolgen merken wir heute noch, und zwar insofern, als in ausnahmslos allen Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften ein metatheoretisches Dogma herrscht, welches besagt, dass man nicht mehr vom Modell des denkenden Subjekts und schon gar nicht vom konkreten Individuum als Träger von Handlungen ausgehen kann. Es gibt heutzutage keine ernstzunehmende Handlungstheorie mehr, die das soziale, politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche oder künstlerische Handeln noch auf Subjekte oder Individuen zurückrechnet und sich mit deren Innenhorizonten beschäftigt. Die Theoriebildung basiert stattdessen ausschließlich auf „Systemen“ und „Strukturen“ (Geschichte, Ökonomie, Psychologie, Politologie, Soziologie), „Kontexten“ und „Diskursen“ (Literatur, Kunst, Philosophie). Aus dieser Perspektive muss die Frage „Was ist ein Demokrat?“ wie der reaktionäre Versuch der Wiederbelebung einer toten Tradition anmuten, nämlichen des frühbürgerlichen Individualismus und seiner „naiven“ Handlungstheorie, die von zurechnungsfähigen Subjekten und leiblichen Individuen ausging. Dabei müsste in modernen Gesellschaften die Erforschung der Individualität doch eine Art der Thematisierung ihrer eigenen, grundlegenden Voraussetzungen sein. Erstaunlicherweise war es der radikalste, aber auch genialste und sensibelste Systemtheoretiker, der auf diese Problematik hingewiesen hat. „Der moderne Begriff des Individuums gehört mithin in eine Gesellschaft, die sich dadurch aufgefordert sehen könnte, sich über sich selbst Klarheit zu verschaffen“ leitete Niklas Luhmann 1992 seine Bestandsaufnahme der unzureichenden theoretischen Leistungen in diesem Feld ein. Denn „nach Jahren der De-Thematisierung scheint zwar eine Re-Thematisierung des Individuums anzulaufen; aber die Klassiker des Faches [Soziologie] können dabei kaum weiterhelfen: Sie hatten sich mit dem split paradigm personale/soziale Identität oder mit oberflächlichen Anleihen bei der Transzendentalphilosophie, mit dem Wort Subjekt begnügt und nie Tiefenbohrungen in Richtung Individualität unternommen.“
Wenn man diesen metatheoretischen Antiindividualismus einmal erkannt hat, dann versteht man auch die Empörung der Fachwelt, als der Historiker Daniel Goldhagen 1996 sein Buch Hitlers willige Vollstrecker veröffentlichte. Darin weigerte der Autor sich, weiterhin „Struktur“- oder „Sozialgeschichte“ zu schreiben, denn Strukturen und das Soziale denunzieren und ermorden keine Menschen. Stattdessen ging er in der angloamerikanischen Tradition der „dichten Beschreibung“ (Clifford Gertz) auf die Motive einzelner Täter ein. Die handlungstheoretische Verarmung in der Modellbildung, die er damit beispielhaft anklagte, ist der erste Grund, weshalb wir keine Antwort auf die Frage geben können, was ein Demokrat oder ein politisches Subjekt ist, denn wir kennen nicht einmal deren logischen und historischen Vorgänger, das Individuum.
Der zweite und dritte Grund für diese Sprachlosigkeit sind beide besonders stark ausgeprägt in Deutschland. Zunächst gibt es hierzulande eine völlig ungebrochene Tradition, das Politische vom Staat her zu denken, niemals ausgehend vom Individuum als politischem Subjekt. In gut aristotelischer Manier wird der Mensch als staatsbezogenes Tier (zoon politicon) gesehen. So wird von der jeweils zu vertretenden Staatsordnung auf das Wesen zurückgeschlossen, dass diese zu tragen und zu ertragen hat. Die innere Komplexität dieses Wesens wird dabei vollständig ausgeblendet. Eine weitere deutsche Besonderheit ist es, das politische Subjekt ausschließlich mit den Maßstäben der Moral zu beurteilen oder gar gleich zu konstruieren. Die politische Philosophie legt hierzulande ausschließlich normative Werte an das politische Subjekt an, interessiert sich also kein bisschen dafür, wie es ist, sondern ausschließlich dafür, wie es sein soll. Dann kommen immer sofort die hehren Forderungen nach Gemeinwohlorientierung und (völlig falsch verstandener) Solidarität (denn der Mafia, den Nazis, der Hamas oder den Taliban machen wir in Sachen Solidarität so schnell nichts vor). Es ist den deutschen Denkern nicht beizubringen, dass der normative, das heißt moralisch strukturierte Diskurs, nur ein „ich muss“ und „wir müssen“ hervorbringen kann, während beim Individuum als politischem Subjekt das freche „ich will – und die anderen sollen!“ aufblitzt. Dieser politische Moralismus durchzieht die Veröffentlichungen der meisten akademisch gebildeten Autoren wie etwa Paul Nolte, aber auch die politischen Kommentarseiten und Feuilletons. Man denke nur an den gerade entdeckten „Ego-Demokraten“ und „Wutbürger“, gegen den es sich offensichtlich zu geifern lohnt. Der damit gebildete positive Begriff des Demokraten kann nur der eines sturen Mitläufers oder eines politischen Heiligen sein. Es ist gar also gar kein Wunder, wenn wir nicht richtig aussprechen können, was ein Demokrat ist. Denn wir wissen weder, was ein Individuum ist, noch was ein politisches Subjekt ausmacht. Letzteres ist natürlich ein besonderes Armutszeugnis für die Politikwissenschaft, denn sie hat es bis heute nicht einmal annähernd geschafft, ihre eigenen Grundbegriffe auszuprägen. Das gilt für den Begriff des Politischen selbst genauso wie für das politische Subjekt. Ökonomie (Smith, Malthus, Ricardo, Schumpeter, Keynes etc.), Soziologie (Durkheim, Weber, Parsons, Luhmann) und Psychologie (Freud, Adler, Jung, Piaget, Erikson etc.) haben für ihre eigenen Bedürfnisse jeweils solide und entwicklungsfähige Begriffsgerüste gebaut. Nicht so die Politikwissenschaft, weder in Deutschland, noch anderswo. Denn sie wissen weder, was sie tun, noch wovon sie reden.
Wenden wir uns nun dem konstruktiven Teil zu, um zu sehen, ob wir nicht doch noch etwas Brauchbares zustande kriegen, das den Demokraten, die es ja offensichtlich gibt, gerecht wird. In meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit unter dem Titel Politische Subjektivität. Der lange Weg vom Untertan zum Bürger (2006) habe ich versucht, an das bereits erwähnte Goldene Zeitalter des Individualismus anzuschließen und die darin gewonnen Erkenntnisse weiterzuentwickeln. Ich möchte Sie nicht in die komplexen, teilweise abgründigen historisch-philosophischen Argumentationslinien dieses Werks einführen, sondern nur mit dessen Ergebnissen arbeiten. Um es kurz zu machen: Politische Subjektivität ist die Fähigkeit zur Reflexion über öffentliche Ordnung. Das ist es, worüber ein Mensch verfügen muss, um Gedanken und Urteile zu bilden, die als politisch qualifiziert werden können. Die philosophische Aufgabe bestand vor allem darin zu zeigen, was die Begriffe „Reflexion“, „Öffentlichkeit“ und „Ordnung“ in dieser Definition bedeuten. Dabei bin ich nicht von existierenden politischen Ordnungen ausgegangen, sondern habe das Denkvermögen untersucht, das es Menschen ermöglicht, diese Ordnungen überhaupt erst hervorzubringen, um an ihnen dann als Individuen, politische Subjekte und schließlich „Bürger“ (im Gegensatz zu Untertanen) teilzunehmen. Deshalb geht es bei den Begriffen „Öffentlichkeit“ und „Ordnung“ nicht nur darum, was jeder von uns in der Welt schon vorfindet, sondern wie wir diese Konzepte in uns, denkend und urteilend entstehen lassen, damit wir über sie reflektieren können. Mit „Öffentlichkeit“ ist in der oben genannten Formel daher nicht nur die empirische, bürgerliche Öffentlichkeit gemeint, etwa im Sinne von Jürgen Habermas‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), mit all ihren Medien wie Gesprächen, Lesezirkeln, Parlamenten, Zeitungen und Fernsehen (heute natürlich auch Internet, Twitter etc.), sondern ein Strukturprinzip unseres Denkens, nämlich wenn wir unsere Interessen, Wünsche und Ideale in einer gedachten Öffentlichkeit diskutieren, in der wir uns auch mit vorgestellten entgegengesetzten Meinungen konfrontieren können. Dementsprechend ist auch die „Ordnung“, um die es in der Formel geht, nicht nur die als existierend vorgegebene, sondern unsere eigene, gedachte und vor allem gewünschte Ordnung (der Wirtschaft, politischen Herrschaft, Sitten, Religion etc.). Denn nur wenn wir die Fähigkeit haben, uns diese Art subjektiver Öffentlichkeit und Ordnung vorzustellen, können wir sie mit der realen, außerhalb von uns existierenden Ordnung vergleichen und unsere Zustimmung oder Ablehnung in eine reale, empirische Öffentlichkeit einbringen, etwas in Form von Gesprächen, politischen Aktionen, Veröffentlichungen von Büchern und Zeitungen, Fernsehauftritten und – in Demokratien – durch die Teilnahme an Wahlen. Ein politisches Subjekt zeichnet sich also durch die Fähigkeit aus, sich vorzustellen zu können, dass etwas anders sein könnte als es aktuell ist. Mit anderen Worten, ein politisches Subjekt hat einen kognitiven Zugang zum Konzept der Option. Wo das nicht gegeben ist, da wird nie ein politischer Gedanke in einem Menschen entstehen können! Das scheint für den inzwischen demokratieverwöhnten Europäer weit hergeholt zu sein, aber nur weil er vergessen hat, wie klein das weltgeschichtliche Fenster ist, durch das er selbst den Zugang zu dieser Denkfähigkeit bekommen hat. Eine derart universale Theorie des politischen Subjekts müsste sich daher mit ethnologischen Beobachtungen und anthropologischen Überlegungen belegen lassen. Das kann sie auch.
Berühmt sind die Studien von Louis Dumont über den Homo hierarchicus (1966) dessen bestes Beispiel er in der indischen Kastengesellschaft fand. Dort gibt bzw. gab (denn das hat sich inzwischen geändert) es nicht die Spur eines politischen Reflexionsvermögens und der Vorstellung, die gegebene Ordnung könnte auch eine andere sein. Noch aufschlussreicher sind die viel zu wenig beachteten Arbeiten des französischen Soziologen, Ethnologen und Anthropologen George Balandier. Seine ganz deskriptiv gehaltene Politische Anthropologie (1972) ist dem normativ-philosophischen Ansatz der deutschen Politikwissenschaft gänzlich fremd. Er hat die ethnologische Literatur zum Problem des Politischen untersucht und wollte sie mit seinen eigenen, in der Afrikaforschung gewonnen empirisch-ethnologischen Erkenntnissen, zu einer völkerkundlich gestützten Theorie des Politischen zusammenfassen. Ziel dieser Lehre sollte es sein, das Vorurteil zu überwinden, primitive Völker hätten keine Geschichte, und viele von ihnen, vor allem solche ohne beobachtbare Staatsformen, würden keine Art von Politik kennen. Insbesondere die strukturalistische Schule hatte den primitiven Gesellschaften jede historisch-politische Dimension abgesprochen. Bemerkenswert ist Balandiers ausgeprägtes methodisches Problembewusstsein. Damit einmal eine wahrhafte „Weltgeschichte des politischen Denkens“ geschrieben werden kann, so meinte er, muss die Frage nach der Definition des Politischen neu gestellt werden. Die verschiedenen Angebote, welche in den Arbeiten früherer politischer Anthropologen formuliert wurden, unterzog Balandier einem ausführlichen Vergleich. Während einige Anthropologen vom Politischen sprachen, wo die Verwandtschaft aufhört, bestimmte Merkmale des Raumes (Territorium, Innen/Außen-Differenz) oder der Handlung (Bezug auf Macht anstatt auf Autorität) gegeben waren, galt für andere nur die Funktion des Politischen in Form von Leistungen für die Gesamtgesellschaft (Kooperation, Integrität, Entscheidungsfindung, Sicherheit). Balandier stellte fest: „Das Politische lässt sich weder auf einen ‚Code‘ (wie die Sprache oder den Mythos) noch (wie die Verwandtschaft oder den Austausch) auf ein ‚Beziehungsnetz‘ reduzieren; es bleibt ein umfassendes System, das noch keine befriedigende formale Behandlung erfahren hat.“ Für unsere Zwecke ist entscheidend, dass er das Politische bzw. eine Form von politischer Subjektivität in den ethnologischen Gesellschaften nachweisen wollte – und sie doch nicht fand. Es gibt also Kulturformen, in denen ein als politisch qualifizierbarer Gedanke gar nicht vorkommt und nicht vorkommen kann, weil dort alles Ritus, Magie und zeitlose Ordnung ist.
Den umgekehrten Weg ist der Althistoriker Christian Meier gegangen, dessen gesamtes Werk von der Suche nach Antworten auf zwei Fragen bestimmt ist: „Wie kam es, dass sich bei den Griechen, anders als bei allen anderen Kulturen vor und neben ihnen, Demokratien entwickelten? Und worin bestand das Politische der Griechen, wodurch war es ausgezeichnet als bestimmt/bestimmendes Lebenselement ihrer Gesellschaft?“ (1980). An anderer Stelle nannte er diesen Ansatz auch einen Versuch in „politischer Ethnologie“. Diese Annäherung setzt ein Bewusstsein für das Besondere, für die historische Emergenz und die Unwahrscheinlichkeit des Politischen voraus. Es schien ihm so, dass die Griechen sich genau durch das Politische von den ethnologischen Völkern und Kulturen unterschieden, womit er unterstellte, dass es bei letzteren wahrscheinlich überhaupt nicht oder nur sehr wenig ausgeprägt vorzufinden war. Niemand hat das zuvor genannte kognitive Konzept der Option als Bedingung für genuin politisches Denken des Individuums besser und verständlicher formuliert als Meier. Das wichtigste Resultat seiner Forschungen ist nämlich das „Können-Bewusstsein“, das sich bei den einzelnen Griechen herausgebildet hat, nachdem der kleine Mittelmeerstaat – entgegen allen Erwartungen – das Riesenreich der Perser mit seinem Millionenheer im Krieg besiegt hatte.
Als einen weiteren wichtigen Gewährsmann für eine historisch-anthropologische Grundstruktur politischer Subjektivität möchte ich den marokkanischen Philosophen Mohammed Abed al-Jabri benennen, der diese Frage im Kontext einer religiös bestimmten Kultur untersucht hat. In seinem monumentalen vierbändigen Werk Kritik der arabischen Vernunft (1984-2001), das die heutigen Defizite und Verspätungen der arabischen Welt aus ihren eigenen kulturellen Quellen heraus untersucht, beschreibt er eine konkrete Schlüsselsituation, wie sie die meisten arabischen Kinder seit Jahrhunderten erleben. Es geht um die gemeinsame Lektüre und vor allem das Auswendiglernen der heiligen Texte in den Koranschulen. Al-Jabri zeigt anschaulich, wie bei dieser Art von verinnerlichender Lektüre die Trennung von gelesenem Objekt und lesendem Subjekt nicht vollzogen wird. Dieser Zustand werde auch dadurch begünstigt, dass viele Araber, die lesen können, ausschließlich den Koran kennen. Für Al-Jabri stellt sich nun die Frage: Wer liest hier wen? Die arabische Sprache hat sich seit eineinhalb Jahrtausenden nicht verändert, ist inzwischen identisch geworden mit einem Gefühl der Authentizität in der arabischen Kultur und hat durch die Offenbarung und Kanonisierung des Korans auch sakralen Charakter angenommen. In diesem kulturellen Kraftfeld sei es durch die Art des Koran-Unterrichts zu einer fatalen Umkehrung gekommen, denn inzwischen lesen die heiligen Texte die Menschen. Die Folge sei eine Unterentwicklung des Reflexionsvermögens und eine verhinderte Individuierung des lesenden Subjekts. Al-Jabri wendet sich damit gegen einen Traditionsbegriff, der nur die Wiederholung von Geschichte meint. Seine hermeneutische Methode nennt er eine „trennende und zugleich rückbindende Lektüre“ („lecture disjonctive-rejonctive“). Das Subjekt soll sich vom Text trennen können, um den Objektcharakter der traditionell-religiösen Ordnung und sich selbst als Individuum zu erkennen. Erst in diesem Moment kann die Reflexion über Ordnungsalternativen einsetzen. Das bedeutet ein Nachdenken über die Verträglichkeit zwischen der in den Texten symbolisch verkörperten Ordnung einerseits (zum Beispiel des Strafrechts, des islamischen Wirtschaftswesen oder des Kalifats), und der individuellen Perspektive auf diese Ordnung andererseits. Die „Rückbindung“ („rejonction“) beschreibt Al-Jabri als die „intuition exploratrice“, eine „forschende Ahnung“, die das „lesende und das gelesene Ich“ („moi-lu et moi-lisant“) umfassen kann. Vor allem diese Horizontverbindung von Individuum und Ordnung beschreibt er eindringlich, denn die Reflexion soll nicht nur das Individuum freisetzen, sondern ihm als Teil der gesellschaftlichen Ordnung eine genuin politische Orientierung darin ermöglichen.
Mit diesen ethnologischen und anthropologischen Beobachtungen können wir nun zwar mit einiger Gewissheit sagen, dass das politische Subjekt ein menschliches Individuum ist, das die Fähigkeit zur Reflexion über öffentliche Ordnungen hat. Doch was ist ein Demokrat? Welcher Spezialfall des politischen Subjekts passt auf den Demokraten und welche sind die Eigenschaften, die ihn vom Nicht-Demokraten unterscheiden? Hier ein erster Versuch. Der Demokrat ist jemand, der die gedachte Öffentlichkeit, derer er fähig ist, auch als reale Öffentlichkeit verwirklicht sehen will, damit er dort – in Gesprächen, Medien, Parteien und Parlamenten – ohne Sanktionen oder Todesfurcht seine eigenen Ordnungsvorstellung einbringen kann. Das Motiv des Demokraten, sich an diese realen Öffentlichkeit zu beteiligen, ist die grundsätzliche Möglichkeit, dass er mit seinem Handeln – in eine Partei eintreten, in den Medien publizieren, eine neue Partei gründen, an Demonstrationen und Wahlen teilnehmen etc. – auch seinen politischen Willen zum Bestandteil des Herrschafts- und Gesetzgebungsprozesses machen kann. Der Demokrat schematisiert die realen Individuen, die gegen ihn in der realen Öffentlichkeit opponieren, weil sie anderer Meinung sind, nicht als existenzielle Feinde, sondern als politische Gegner. Das heißt auch, dass seine Vorstellungen von öffentlicher Ordnung immer von einer Duldung der jeweiligen Opposition gekennzeichnet sind, denn er selbst könnte jederzeit auch in der Opposition sein. Der Demokrat verzichtet auch darauf, seine eigenen Ordnungsvorstellungen als zeitlose ontologische Wahrheiten zu hypostasieren, und erkennt sie stattdessen als persönliche, subjektive Interessen, die er im Gefüge von Regierung und Opposition auf der Regierungsseite umgesetzt und damit verallgemeinert sehen möchte.
Das ist nur eine erste Skizze, die aber deutlich macht, dass wir den Demokraten erst noch entdecken und erforschen müssen. Sie zeigt zusammen mit den vorangegangenen Überlegungen auch, warum es auf die Frage nach dem Demokraten keine einfache Antwort geben kann, denn niemand wird als Demokrat geboren. Doch warum sollten die DNA des Politischen und ihr Wirksamwerden im Demokraten auch einfacher sein als die Doppelhelix in den Erbanlagen allen Lebens? Es ist gerade diese Komplexität, die uns zeigt, wie erstaunlich voraussetzungsreich, schön und zugleich verletzlich dieses Produkt unserer geistigen und kulturellen Evolution ist.
Reginald Grünenberg (*1963) ist politischer Philosoph, Schriftsteller und Drehbuchautor
Über die Zeitschrift Fikrun Wa Fann
Fikrun wa Fann bedeutet „Kunst und Gedanke“ und ist der Titel einer internationalen Kulturzeitschrift des Goethe-Instituts, die den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und islamisch geprägten Kulturkreisen fördert und mitgestaltet. Autoren aus Deutschland, Europa und der islamischen Welt kommen neben anderen internationalen Stimmen zu Wort. Fikrun wa Fann bietet neben Information und Dialog mit den und innerhalb der islamisch geprägten Kulturkreise ein literarisches Forum für aktuelle gesellschaftspolitische Debatten.